Die Entführung der Anna Netrebko by Günther Freitag

Die Entführung der Anna Netrebko by Günther Freitag

Autor:Günther Freitag [Freitag, Günther]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wieser
veröffentlicht: 2015-09-21T16:00:00+00:00


8

Mama liegt seit Wochen im Spital und erholt sich, wie ich den täglichen Anrufen der Ratte entnehme. Zwar langsam nur, aber sie macht Fortschritte, höre ich und muss feststellen, dass sich mit denen auch die Stimme ihrer Sklavin verändert. In der klingt immer öfter ein Optimismus an, der das Weinerliche übertönt. Die Ratte versucht auch wieder, in die Kanzleiarbeit einzugreifen, weil sie wohl schon von den alten Verhältnissen träumt.

Die meiste Zeit habe ich mit Anna zugebracht und Mama verdrängt. Dass die so rasch wieder auf die Beine kommen würde, habe ich nicht angenommen. Doch vielleicht sieht die Ratte ja bloß das, was sie sehen möchte. Oder sie will mich nur verunsichern, weil sie es nicht erträgt, dass ich in Mamas Büro und nicht in meinem Loch sitze. Nun lässt es sich nicht mehr vermeiden, ich muss ins Spital und mit Mamas Arzt reden, um mir Klarheit über ihren Zustand zu verschaffen. Den Andeutungen der Ratte traue ich nicht. Ich werde auch Mama besuchen und nach wenigen Sätzen wissen, was ich von dem Bericht des Arztes und den Nachrichten der Ratte zu halten habe. Aber nicht sofort, ich setze mir eine Frist von zwei Tagen, in denen ich den Schriftsatz für die Klage des Biogasanlagenbetreibers fertigstellen werde. Wenn die Ratte keinen Rückfall meldet, werde ich Mamas Arzt aufsuchen.

Die Arbeit fällt mir schwer, ganze Absätze lösche ich und suche nach neuen Formulierungen und zusätzlichen Verweisen auf Urteile des Obersten Gerichtshofs. Dass ich Annas CD höre, stört meine Konzentration, obwohl ich gehofft habe, ihre Stimme würde mir das Lesen der öden Urteilsbegründungen erleichtern. Immer wieder lege ich die Kommentarbände weg und betrachte ihr Foto auf dem Cover.

In der Kanzlei an Mamas Schreibtisch kann ich mir alles vorstellen, ich muss nur die Umweltschützer aus dem Bild drängen, was mir leichtfällt, wenn ich an ihrer Stelle Anna auftreten lasse. Die treffe ich nach der Vormittagsprobe im Café Mozart. Sie stört es nicht, dass uns die Gäste beobachten. Ich bringe vor Verlegenheit kein Wort heraus, auch mein Armani-Anzug rettet mich nicht. Zum Glück redet sie von ihren Zeichnungen und davon, dass sie beabsichtige, nach dem Ende ihrer Opernkarriere sich wieder mit diesen zu befassen. Da hake ich ein und schlage ihr vor, die Albertina zu besuchen. Dann verblassen die Bilder, und ich kehre zu den Umweltschützern zurück, auf deren Vergehen sich unter Umständen auch der Terrorismusparagraf anwenden ließe, was dem Prozess ein größeres Medienecho bescheren würde.

Ich bin nicht mehr bei der Sache, denke abwechselnd an Anna und Mama, schalte den Laptop aus und gehe durch den Burggarten zum Ring. Auf den Parkbänken sitzen Liebespaare, neidisch angestarrt von einer alten Frau, die ihre schlechte Laune mit dem Schoßhündchen ins Freie führt. Halbwüchsige auf ihren Skateboards umkreisen sie und die Hundekarikatur grölend, worauf sie ihnen mit dem Gehstock droht. Aber diese hilflose Geste spornt die Jungen nur zu immer waghalsigeren Kurven an, bis sie schließlich das Interesse an ihrem Opfer verlieren.

In mein Stammcafé am Graben gehe ich bloß noch, wenn die junge Slowakin nicht bedient. Der Ausdruck Stammcafé



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.